Collage Schelt

Martin Schindler beweist:Ausbildung versetzt Berge!

Deutschland steuert einer neuen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge auf eine Lehrstellen-Krise zu. Jeder zehnte ausbildungsfähige Betrieb könnte zum neuen Ausbildungsjahr weniger Lehrstellen anbieten als noch im Vorjahr, fanden die Nürnberger Wissenschaftler in ihrer Studie heraus. Manche würden auch gar nicht mehr ausbilden. Davon maßgeblich betroffen sind auch IHK-Lehrverhältnisse, die zum Teil bereits im vergangenen Jahr von einem höheren Rückgang betroffen waren als die Lehrstellen im Handwerk. Die Gründe dafür sind weithin bekannt. Große Teile des Handels und der Gastronomie befinden sich in einem zweiten Lockdown, der Industrie wiederum machen wegbrechende Aufträge und unterbrochene Lieferketten – zum Teil auch aus den Investitionshandwerken – zu schaffen. Und wie ist die Lage sonst im Handwerk? „Zum Jahresende haben wir ausbildende Mitgliedsbetriebe zu ihrer Ausbildungsbereitschaft befragt. Das Ergebnis war durchgewachsen. Viele Betriebe konnten aufgrund der unsicheren Geschäftserwartungen nicht sagen, ob sie ihr Ausbildungsplatzangebot zurückfahren werden“, erinnert sich Hauptgeschäftsführerin Ina-Maria Heidmann. Viele gaben finanzielle Gründe an, andere nannten mangelnde räumliche und personelle Kapazitäten für das eingeschränkte Ausbildungsangebot. Zu guter Letzt sei vielen die Rekrutierung des Nachwuchses schwergefallen, weil pandemiebedingt keine Ausbildungsmessen oder Schulbesuche stattfinden konnten. Dies bestätigen auch die Mitarbeiter des Ausbildungsplatzmatchings (Projekt „Passgenaue Besetzung“, siehe S. 12) der Handwerkskammer. Die zielgerichtete Ansprache junger Menschen über die neu entstandenen digitalen Ausbildungsmessen oder OnlineAzubi-Speed-Datings etabliert sich nur langsam. Ein Ende dieser erschwerten Rahmenbedingungen ist leider immer noch nicht in Sicht.



Ohne Lehre läuft nichts

Bislang hat es keinen erdrutschartigen Einbruch im Handwerk gegeben. In den Regionen Göttingen, Hildesheim, Holzminden, Osterode und Northeim pendelt sich der Schwund der neu eingetragenen Lehrstellen bei rund - 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr ein und liegt damit im Bundesdurchschnitt. Sinkt die Zahl der Auszubildenden allerdings zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres im August weiterhin so stark, droht Deutschland ein ernsthaftes Problem. Wenn Prognostiker und Schwarzmaler in den Vorjahren immer vom sogenannten Fachkräftemangel sprachen als sei er bereits unter uns, so lässt sich an dieser Stelle behaupten, dass sie sich irrten. Zumindest bis jetzt. Seit 2020 haben wir einen echten Grund, uns vorm Fachkräftemangel zu fürchten. „Mit der Ausbildung steht und fällt alles“, sagt Hartmut Kahmann, HWK-Vizepräsident Arbeitnehmer. „Wir werden auch eine Zeit nach Corona haben, und da werden wir gut ausgebildete Fachkräfte ganz dringend in unserem Land brauchen. Weniger Auszubildende bedeuten auch weniger potenzielle Meisterinnen und Meister, die Betriebe gründen oder übernehmen, um Arbeitsplätze und die Wirtschaft vor Ort zu erhalten.“ Es ist ein empfindlicher Kreislauf, der, wenn er durchbrochen wird, bei fehlenden Azubis im ersten Jahr beginnen und bei fehlenden Betriebsinhabern im Handwerk enden wird.



„Ich habe einfach das geilste kleine Team der Welt!“ 
Martin Schindler, Betriebsinhaber und Ausbilder



Doch da geht noch was

Es gibt tatsächlich auch gute Nachrichten. Wie viele andere Betriebe im Handwerk hat sich auch Martin Schindler (51), Sanitär-Heizung-Solar, aus Northeim dazu entschieden, in diesem Jahr auszubilden. Vor zwei Jahren hat der Betrieb mit seinen 15 Mitarbeitern gleich drei Auszubildende eingestellt. Aber jetzt freuen sich mit dem Chef unter anderem Ehefrau Nicole Schelt (48), die Auszubildenden Mustafa El Baba (27), Noah Kobisch (21) und Jan Schelt (18), sowie die Gesellen Sebastian Georg (27) und Moritz Koch (22) auf den Neuzugang ab August. Wie macht Martin Schindler das? In einem Beruf, der in den vergangenen Jahren unter einem heftigen Imageproblem bei jungen Menschen gelitten hat? Sein Erfolgsrezept klingt einfach und genial. „Ich habe einfach das geilste kleine Team der Welt“, sagt er mit voller Überzeugung. Und dass es seine Mitarbeiter auch so sehen, wird im Gespräch deutlich. „Wir sind wie eine Familie mit flachen Hierarchien und machen, wenn es Corona dann wieder zulässt, auch gemeinsame Aktivitäten. Eigentlich war 2020 ein Betriebsausflug nach Hamburg geplant, doch der wird nachgeholt“, ergänzen seine zwei Gesellen. Der Team-Gedanke schweißt den mitarbeitenden Generationenmix im Alter von 18 bis 61 Jahren zusammen. Trotz voller Auftragsbücher, hin und wieder auch mal Stress mit zackigen Ansagen, letztendlich aber immer mit einer ordentlichen Prise Humor, tritt man hier täglich zusammen an, um Northeim und die Umgebung in einem systemrelevanten Handwerk am Laufen zu halten. Auch am Wochenende, das ist Ehrensache. In einer Zeit, in der Corona uns allen die hässliche Fratze zeigt und zwischenmenschliche Kontakte auf ein Minimum wegreduziert, sind familiäre und auf Vertrauen und Verständnis gründende Beziehungen bei der Arbeit vielleicht wichtiger denn je. Und dass das klappt, davon ist auch Chefin Nicole Schelt überzeugt: „Es spricht sich einfach herum, dass das Betriebsklima bei uns super ist. Wir müssen im Grunde kaum Nachwuchswerbung machen und Stellenanzeigen schalten. Sogar Gesellen fragen initiativ an, ob wir freie Stellen haben. In der vergangenen Woche waren es drei.“ Ob er seinen Betrieb allerdings personell vergrößern will, ist sich Martin Schindler noch nicht ganz sicher. Schließlich ist der Platz auf dem Grundstück in der eng bebauten Northeimer Altstadt begrenzt. Wenn es um die Suche nach passenden Auszubildenden geht, schwört Schindler auf Praktika oder zumindest auf Probearbeiten. „Dann können beide Seiten sehen, ob es das Richtige ist und ob er oder sie ins Team passt. Motivation und Engagement ist der Schlüssel, nicht unbedingt die Schulnoten oder der Abschluss“, ist Schindler überzeugt. Bei den aktuellen Auszubildenden im zweiten Lehrjahr handelt es sich um zwei Fachabiturienten und einen Gefl üchteten aus dem Libanon, der von HWK-Mitarbeiter Ralf Holze vom Projekt IHAFA (Integrationsprojekt Handwerkliche Ausbildung für Flüchtlinge und Asylbewerber, siehe Seite 12 ) der niedersächsischen Handwerkskammer vermittelt wurde. Lehrling und Sohn Jan Schelt bereitet sich derweil schon mental auf die langfristig geplante Übernahme des Familienbetriebes vor. Hier schließt sich wieder der bereits beschriebene systemtragende Kreis vom Azubi zum Arbeitgeber von morgen.





„Selbstbewusstsein und Glaube an uns selbst, das ist es,
was wir alle in Bezug auf die Ausbildung brauchen“

Ina-Maria Heidmann, Hauptgeschäftsführerin der
Handwerkskammer Hildesheim Südniedersachsen

Ina-Maria Heidmann



Die Krise als Chance

„Das Handwerk wird auch den Stresstest ‚Corona-Pandemie‘ bestehen. Es hat die Wirtschaftskrise von 2009 auch besser verkraftet als andere Wirtschaftsbereiche“, ist sich die HWK-Hauptgeschäftsführerin sicher. In einer Zeit, in der andere Bereiche kaum Berufsorientierung durchführen können, bleibt das Handwerk größtenteils standhaft und bietet beispielsweise Praktikumsplätze an. Das bedeutet auch: Wenn andere Branchen schwächeln und weniger Ausbildungsplätze anbieten, stehen dem Handwerk mehr potentielle Bewerber auf dem Markt zur Verfügung. Die Chancen, junge ausbildungswillige Menschen zu fi nden, stehen so gut wie nie zuvor. „Ich kann alle Ausbildungsbetriebe nur ermutigen, seien Sie selbstbewusst. Ihr Handwerk steht für Innovation, steht für Nachhaltigkeit, für Fortschritt, für Regionalität. Das sind Themen, die junge Menschen ansprechen. Sie müssen nur darauf hingestoßen werden, dass sie sich selbst nicht nur theoretisch damit befassen sollen, sondern in einem Handwerksberuf selbst einen aktiven Beitrag leisten können“, appelliert Vizepräsident Kahmann. Die Innung Sanitär- und Heizungstechnik Hildesheim hat mit ihrer von der Handwerkskammer mitentwickelten Kampagne „Azubis for Future“ ein starkes Zeichen in der jugendlichen Ansprache für den Klimawandel gesetzt und damit auch Erfolg (Google-Eingabe: Azubis for Future Hildesheim). Die Lehrlingszahlen gingen im Corona-Jahr 2020 nach oben. Der Gedanke „Nachhaltigkeit und Klimaschutz“ lässt sich auf nahezu alle Handwerke übertragen (der Bereich Kommunikation der Handwerkskammer unterstützt Sie gern bei der Entwicklung Ihrer Strategie für die richtige Ansprache). „Selbstbewusstsein und Glaube an uns selbst, das ist es, was wir alle in Bezug auf die Ausbildung brauchen“, ergänzt Heidmann. „Glaube kann Berge versetzen, Ausbildung kann es auch.“



Dieser Artikel ist am 15. März 2021 im Norddeutschen Handwerk erschienen.

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Stefan Pietsch

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